Warum prädiktive Steuerung die Zukunft der urbanen Mobilität ist
„Adaptives Verkehrsmanagement stellt den bedeutendsten Fortschritt im Umgang mit urbanen Mobilitätsherausforderungen dar“, beginnt Matthias Künzelmann, Strategic Program Manager bei SWARCO.
„In den 60er- und 70er-Jahren war die Lösung einfach: mehr Straßen bauen, mehr Spuren anlegen. Aber heute wissen wir, dass das nur noch mehr Verkehr anzieht. Es ist ein Teufelskreis.”

Künzelmann erklärt, warum adaptives Verkehrsmanagement heute unverzichtbar geworden ist: „Man kann nicht endlos weiterbauen. Wir müssen intelligenter mit dem umgehen, was wir haben. Außerdem ist die Welt komplexer geworden. Früher ging es nur um den Fahrzeugfluss. Heute haben wir es mit Bussen, Radfahrer:innen, Fußgänger:innen und einer Vielzahl von Interessensgruppen zu tun – alle mit eigenen, oft widersprüchlichen Interessen. Wenn man zum Beispiel Bussen Vorrang gibt, um deren Service zu verbessern, verlängert sich meist die Wartezeit für den Individualverkehr. Schafft man längere Grünphasen für Fußgänger:innen, leidet der Verkehrsfluss des öffentlichen Nahverkehrs. Und wenn man versucht, Emissionen durch weniger Stopps für Lkw zu reduzieren, kann das die Wartezeit für Radfahrer:innen erhöhen.“
Auch die technologische Entwicklung treibt das adaptive Verkehrsmanagement rasant voran. Beispielsweise stellen Start-Stopp-Systeme und Elektrofahrzeuge unsere bisherigen Annahmen über Emissionen infrage. Gleichzeitig eröffnen sich neue Möglichkeiten durch vernetzte Mobilität, Floating Car Data und leistungsfähigere Erkennungssysteme mit intelligenten Kameras. „Und als ob das nicht genug wäre”, fährt Künzelmann fort, „haben wir einen Mangel an Verkehrsexpert:innen, weil viele junge Menschen mit dem Eindruck aufwachsen, dass Künstliche Intelligenz (KI) all das automatisch löst. Aber Mobilitätsexpert:innen sind weiterhin nötig, um KI zu trainieren, Rahmenbedingungen zu definieren und einen sicheren Betrieb in dieser neuen Komplexität zu gewährleisten.“
Die Entwicklung der Verkehrssteuerung
Um zu verstehen, warum adaptive Systeme so leistungsfähig sind, fordert Künzelmann uns auf, einen Blick auf die Entwicklung der Verkehrssteuerung zu werfen: „Systeme der ersten Generation arbeiteten mit festen Zeitplänen – voreingestellte Zyklen für verschiedene Verkehrsbedingungen während eines Tages, die unabhängig der tatsächlichen Verkehrsbindungen gleich blieben. Diese traditionellen Systeme sind weltweit noch im Einsatz, können aber nicht auf die dynamische Natur des Verkehrs reagieren.“
Mit der zweiten Generation kamen verkehrsabhängige Systeme, die kleinere Anpassungen basierend auf Fahrzeugerkennung vornehmen konnten. „Denken Sie an Induktionsschleifen im Asphalt oder Kameras, die herannahenden Verkehr erkennen. Diese Systeme können eine Grünphase verlängern, solange der Verkehr fließt. Im Grunde aber modifizieren sie nur voreingestellte Programme leicht. Auf unerwartete Situationen können sie nicht reagieren.”
Die dritte Generation brachte echte Anpassungsfähigkeit. „Diese Systeme passen Ampelphasen direkt auf Basis von Echtzeitdaten an. Sie reagieren auf das, was gerade passiert ist und ändern den nächsten Zyklus – reaktiv, aber noch nicht vorausschauend.“
Prädiktive Steuerung als Durchbruch
Der eigentliche Durchbruch kam mit der vierten Generation, die prädiktive Steuerung nutzt. Anstatt nur auf vergangene Ereignisse zu reagieren, nutzen diese Systeme ausgeklügelte Verkehrsmodelle, um vorherzusagen, was in den nächsten Sekunden oder Minuten passieren wird.
“Stellen Sie sich vor: Fünf Autos nähern sich aus einer Richtung und zwei aus einer anderen“, schildert er. „Ein prädiktives System kann verschiedene Szenarien simulieren und erkennen, dass es klüger ist, der größeren Gruppe Vorrang zu geben, weil das insgesamt zu weniger Stopps führt. Das System entscheidet auf Basis dessen, was passieren wird, nicht dessen, was passiert ist.“
Ein multimodaler Ansatz
Moderne Systeme konzentrieren sich nicht mehr nur auf Autos. „Früher haben wir nur Autos betrachtet, aber heutige Städte sind komplex. Prädiktive Systeme erkennen alle Verkehrsteilnehmer:innen und beziehen sie in ihre Entscheidung mit ein. Das System kann erkennen, ob sich eine große Gruppe Radfahrer:innen nähert oder ein Bus, der Vorrang erhalten soll.“
Dieser multimodale Ansatz passt perfekt zu den Mobilitätsvisionen vieler Städte. SWARCO kann mit seinen Systemen Radfahrer:innen oder dem öffentlichen Verkehr strukturell Vorrang geben und so nachhaltige Verkehrsmittel attraktiver machen. Die Algorithmen passen sich dabei an unterschiedliche Ziele an.



So funktioniert es in der Praxis
Moderne adaptive Systeme kombinieren verschiedene Datenquellen, um ein vollständiges Bild des Verkehrs zu erhalten. „Wir nutzen nicht nur klassische Erkennungsmethoden wie Induktionsschleifen und Kameras, sondern auch neue Quellen wie Floating Car Data und Informationen aus vernetzten Fahrzeugen“, erklärt Künzelmann.„Mit dem sogenannten Model Predictive Control (MPC) simuliert das System kontinuierlich verschiedene Verkehrsszenarien für ein bevorstehendes Zeitintervall“, fährt er fort. „Es bewertet verschiedene Steuerungsmuster basierend auf bestimmten Zielen – etwa weniger Stopps, geringere Emissionen oder Vorrang für den öffentlichen Verkehr – und wählt dann die beste Lösung.“
Herausforderungen und Chancen
„Die Anfangsinvestition in prädiktive Systeme ist etwas höher als bei traditionellen Systemen“, räumt Künzelmann ein. Für Kommunen mit knappen Budgets kann das ein Hindernis sein, obwohl die Hardware oft gleich viel kostet. „Viel eher fehlt es an Innovationsbereitschaft oder man hat Angst vor Innovation. Aber die langfristigen Vorteile – weniger Staus, geringere Emissionen, weniger Unfälle – bringen eine solide Rendite.“
Außerdem weist er auf den unerwarteten Vorteil hin, dass prädikative Systeme die Konfiguration tatsächlich erleichtern: „Verkehrsingenieur:innen können sich auf die Festlegung von Prioritäten konzentrieren – etwa Fußgänger:innen vor Autos oder öffentlicher Verkehr vor Privatfahrzeugen – und das System übernimmt die optimale Umsetzung.“
Die Zukunft
In Zukunft könnten modellbasierte Ansätze durch digitale Zwillinge weiter verbessert werden, meint Künzelmann. Anstatt isolierte Kreuzungen oder Korridore zu analysieren, ermöglichen moderne Technologien eine prädiktive, nahezu in Echtzeit ablaufende Simulation ganzer Städte. Diese digitalen Zwillinge integrieren nicht nur adaptive Ampelsteuerung, sondern auch Wechselverkehrszeichen und dynamische Geschwindigkeitsregelungen. Damit wird der Verkehrsfluss im gesamten Netz simuliert und optimiert, um datenbasierte und strategische Mobilitätsentscheidungen auf Stadtebene zu ermöglichen. Dieser umfassendere Blick eröffnet neue Möglichkeiten für ein umweltbewussteres Verkehrsmanagement, da die Ursachen für Luftqualitätsprobleme oft nicht dort liegen, wo sie gemessen werden, sondern an anderen Stellen im Netzwerk beeinflusst werden können.

Matthias Künzelmann, Head of Product at SWARCO Solution Center GmbH